
Heiligkeit
Als ich etwa 14 Jahre alt war, gingen wir als Familie mit einer Schulfreundin meiner Mutter wandern. Etwa auf halber Höhe des Aufstiegs meinte diese, sie wolle schnell in der Kapelle, die dort auf der Alp stand, nach den Blumen sehen. Wir folgten ihr in das Kirchlein, in dem im Altarraum ein großes Kruzifix hing. Bis heute erinnere ich mich sehr genau daran, auf welche Weise die Freundin meiner Mutter dort die Kniebeuge machte. Es war, als grüßte sie einen alten Bekannten, mit dem sie sehr vertraut war und ich dachte: „So eine Beziehung möchte ich auch einmal haben“.
Damit hat sie mir mehr über die Möglichkeit einer gelungenen Gottesbeziehung beigebracht, als ich das in vielen Büchern hätte erlesen können. Das Allerheiligen-Fest – davon bin ich überzeugt – gilt auch ihr. Denn es erinnert uns an das, was das zweite Vatikanisches Konzil im Schreiben über die Kirche als „allgemeine Berufung zur Heiligkeit“ beschreibt.
Was ist damit gemeint? Ich glaube, die Freundin meiner Mutter bringt das wunderbar zum Ausdruck. Sie war ein durchaus streitbares Mitglied der Kirche, die auch offen zum Ausdruck brachte, wenn sie mit gewissen Lehrmeinungen nicht einverstanden war, dies vor allem dann, wenn sie das Gefühl hatte, dass diese einen Menschen an der vollen Ausschöpfung seines Potenzials hinderten. Gleichzeitig trat sie leidenschaftlich für das Wohl jedes Menschen ein und hätte ihr letztes Hemd für ihre Schüler gegeben.
Für mich, und nicht nur für mich, wurde sie zu einem positiven Gesicht für Kirche, zu einem Beispiel gelebter Gottesbeziehung, das mich faszinierte und mich anregte in meiner eigenen Spiritualität zu wachsen.
Übersetzt man die Entlassungsformel der Messe wörtlich aus dem Lateinischen, bedeutet sie: Geht, ihr seid gesendet. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir uns dieser Sendung immer wieder bewusst sind: der Kirche in meinem Umfeld mein ganz unverwechselbares Gesicht zu geben, ein Gesicht, das ihr niemand anders geben kann, und das daher unersetzlich ist.
Sr. Elisabeth Bäbler
Leiterin des Geistlichen Zentrums Eremitage Franziskus